Der Begriff der Muttersprache spielt traditionell eine große Rolle im Zusammenhang mit Übersetzungen. Dies führt zu dem verbreiteten Missverständnis, wonach die »halbe Miete« sozusagen schon bezahlt ist, wenn eine Übersetzung nur in die Muttersprache des Übersetzers angefertigt wurde. So einfach ist die Sache längst nicht. Schon der Versuch einer Begriffsklärung ist nicht ganz einfach. Konsensfähig erscheint die Basisdefinition, wonach wir unsere Muttersprache im Kindesalter ohne Vorkenntnisse einer anderen Sprache erwerben.
Es ist nicht unsere Absicht, die Existenz dieser kindlichen Prägung in Streit zu stellen. Wir bezweifeln auch nicht, dass sie neben dem Element der frühen Sozialisation eine starke biologische Komponente umfasst. Man kann aber den Begriff der Muttersprache nicht einfach auf den gesamten Bildungsweg extrapolieren. Es gibt durchaus Werdegänge mit kindlicher Prägung in Sprache A, die aber in der weiteren schulischen, universitären und beruflichen Laufbahn von Sprache B abgelöst wird. Solche Menschen sind von den Vorzügen ihrer Muttersprache in aller Regel nicht sehr überzeugt.
Vielmehr ist bekannt, dass solche Menschen bessere Resultate im aktiven Umgang mit der »neuen« Sprache erzielen. Dieser Befund ist auch nicht verwunderlich. Immerhin ist unser aktives Sprachwissen ein Spiegel unseres Orientierungshorizonts in einer bestimmten sprachlichen Umgebung. Dieser Horizont entscheidet auch darüber, ob die Verständnis- und Ausdrucksmöglichkeiten für den Beruf eines professionellen Übersetzers überhaupt in Reichweite sind. Der Begriff der Muttersprache ist hierfür zu eng.
Man könnte auch sagen, dass seine verkürzende Logik zu weit geht. Gemeint ist ja, dass die allermeisten Menschen ihre schulische und universitäre Ausbildung in derselben Sprache absolvieren, in der auch ihre muttersprachliche Prägung stattgefunden hat. Es handelt sich also um ein systematisches Zusammentreffen beider Faktoren, nicht aber um einen kausalen Zusammenhang.
Insgesamt geht es somit weniger um die Muttersprache im engeren Sinn als vielmehr um das Ausmaß der soziokulturellen Einbindung in eine bestimmte Sprachgemeinschaft. Dieser Faktor wiederum ist nicht für alle Arten von Übersetzungen gleich wichtig. Aus all diesen Gründen halten wir »Muttersprachlichkeit« für eine unglückliche Pauschalisierung im Hinblick auf übersetzerische Kernkompetenzen.
Aus Bequemlichkeit verwenden wir dieses Wort immer wieder auch selbst, versuchen dabei jedoch zu unterscheiden, wo die verkürzende Logik endet und die logischen Kurzschlüsse beginnen, da letztere eine Quelle von weitreichenden Missverständnissen sind.
Die Übersetzerausbildung an deutschsprachigen Universitäten umfasst drei Sprachen. Dabei wird unterschieden zwischen einer Erstsprache (A-Sprache/Muttersprache) und zwei weiteren Sprachen (B- und C-Sprache oder erste und zweite Arbeitssprache). Von den Studierenden werden Übersetzungen aus der B- und C-Sprache in die A-Sprache sowie aus der A-Sprache in die B-Sprache gefordert.
Dieses Studienkonzept beruht vermutlich in irgendeiner Form auf durchschnittlichen Erfahrungswerten mit unterschiedlichen Sprachenkombinationen. Es geht davon aus, dass professionelle Übersetzer sehr wohl in der Lage sein sollten, mit guten Resultaten aus ihrer Muttersprache in die erste Arbeitssprache zu übersetzen. Diese Praxis finden wir auch einleuchtend.
Eher geteilt ist unsere Meinung zur zweiten Arbeitssprache. Hier wird nur in die Muttersprache übersetzt, wobei die Annahme gilt, dass man die Originalsprache »passiv beherrscht«. Wie erläutert (siehe hier), halten wir diesen Ansatz für akzeptabel, betrachten aber manche Denkmuster, die sich in der Praxis anschließen, mit Skepsis. Überdies bietet eine fundierte und kontrastive Auseinandersetzung mit nur zwei Sprachen (also einer A-Sprache und einer B-Sprache) bereits Lernstoff für mehr als ein Leben. Demnach könnte man eine dritte Sprache (also eine C-Sprache) auch als entbehrlich betrachten.
Allerdings wurde dieses Studienkonzept nicht nur aus prinzipiellen Überlegungen entwickelt, sondern auch mit Rücksicht auf die Existenzgrundlage von Übersetzern. Nicht in jedem Land ist eine einzelne Sprachenkombination hierfür ausreichend. Noch dürftiger wird das Potenzial, wenn man kritischen Stimmen folgt, wonach Übersetzer ausschließlich in die eigene Muttersprache übersetzen sollten. Dieser Ansatz, auch als »Muttersprachenprinzip« bekannt, würde erst recht keine Existenzgrundlage bieten, wenn man ein bestimmtes Sprachenpaar mit relativ geringem Aufkommen an Übersetzungen immer nur in eine Richtung anwendet.
Vielmehr gilt es nach dem Muttersprachenprinzip als logischer, dass aus einer beliebigen Anzahl an »passiven« Sprachen immer nur in die eigene Muttersprache übersetzt wird. Allerdings ist auch diese Sichtweise tendenziös, zumal sie voraussetzt, dass ein ausreichender Bedarf an Übersetzungen in die eigene Muttersprache vorhanden ist, was kaum für alle Sprachen dieser Welt gelten dürfte. Vor allem aber unterminiert sie die Forderung, dass Übersetzungen stets auf einem möglichst profunden Textverständnis basieren sollen, da mit der Zahl an Ausgangssprachen zwangsläufig die Verständnistiefe abnimmt.
Starker Druck für das Muttersprachenprinzip kommt aus dem englischsprachigen Raum, wo der Begriff des Native Speaker einen hohen Stellenwert besitzt. Man sollte aber verstehen, dass die Welt reich an kleineren Populationen mit vielfältigen Sprachen und demografischen Verhältnissen ist. Vor diesem Hintergrund ist die spezifische Sichtweise mancher englischer Muttersprachler (trotz deren großer Zahl) letztlich nichts weiter als eine anekdotische Erfahrung, die man nicht überbewerten sollte.
Auch bei dieser Diskussion wollen wir keinesfalls bestreiten, dass der Begriff der Muttersprache einen realen Hintergrund besitzt. Vielmehr möchten wir darauf hinweisen, dass er als Native Speaker bis zu einem gewissen Grad selbst eine kulturspezifische Vorstellung ist, die gerade im Zusammenhang mit Übersetzungen zunehmend als Aspekt der Qualitätssicherung bei uns Einzug hält, obwohl er auf die hiesigen Realitäten nicht direkt übertragbar ist. Für die deutsche Sprachgemeinschaft hat der Begriff der Muttersprache nie einen ähnlichen Stellenwert mit vergleichbarem Exklusivitätsanspruch besessen.
Vielleicht nicht zufällig stammen die Vorstellungen, die mit dem Begriff des Native Speaker verbunden werden, aus einem Umfeld mit denkbar schlechten Fremdsprachenkenntnissen, für die es auch sehr gute und nachvollziehbare Gründe gibt. Spontan kommen uns mindestens vier Ursachen in den Sinn. Erstens umfasst der englischsprachige Raum ein sehr großes Gebiet, was den Bedarf am Erlernen von Fremdsprachen deutlich reduziert. Zweitens spielt die geografische Abschottung durch Englands Insellage eine nicht unbedeutende historische Rolle für die notorische Einsprachigkeit der Bevölkerung (Stichwort »splendid isolation«).
Drittens geht wirklich profunder Ehrgeiz in der Auseinandersetzung mit einer Fremdsprache einher mit der Aussicht auf Prestigegewinn und sozialen Aufstieg, und diese Motivation entfällt für Briten oder Nordamerikaner in ihrem Verhältnis etwa zu den deutschsprachigen Ländern. Viertens lernen die Menschen aus diesem Sprachkreis schon aufgrund der grammatischen Einstiegsbarriere hin zu stärker flektierenden Sprachen weniger häufig Deutsch als umgekehrt.
Diese vier Hindernisse sind bei allem Respekt für Übersetzerkollegen aus dem englischsprachigen Raum auch dafür verantwortlich, dass ihre deutschen Sprachkenntnisse in sehr vielen Fällen weit davon entfernt sind, bei Übersetzungen ins Deutsche auch nur annähernd akzeptable Ergebnisse zu liefern. Dieses Wissen um die eigenen Schwächen führt bei manchen englischsprachigen Kollegen und Agenturen zu unzulässigen Verallgemeinerungen.
Zwar lassen die Resultate von deutschsprachigen Übersetzern, die ins Englische übersetzen, vielfach zu wünschen übrig. Akzeptable Ergebnisse sind aber (aus den genannten Gründen, aber mit umkehrten Vorzeichen) doch sehr viel einfacher zu erreichen als für englischsprachige Übersetzer, die ins Deutsche übersetzen. Übrigens existieren sehr ähnliche Kausalzusammenhänge auch im Verhältnis zwischen Übersetzern aus manchen slawischen Ländern und ihren deutschsprachigen Kollegen.
(Text aus 2009)