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Nähkästchen:

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Einleitung                                   Übersicht

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4   Vordergründigere Elemente der Kernkompetenz

Sprachwissen, Terminologie, Fachwissen

Die sprachlich-terminologische Komponente von Übersetzungen ist Gegenstand der allgemeinen Wahrnehmung. Manche Aspekte davon werden immer wieder mit großer Ausführlichkeit diskutiert. Auch das nötige Fachwissen für spezialisierte Übersetzungen ist ein beliebtes Diskussionsthema. Gern wird argumentiert, dass zwischen dem Wissen eines erfahrenen Fachübersetzers und dem praktischen Wissen des Fachmanns kein grundsätzlicher Unterschied besteht.

Gleichzeitig verlaufen die meisten Diskussionen zu diesen Themen immer nur im Kreis. Mit den Jahren erinnern sie immer stärker an einen bekannten Filmtitel aus den neunziger Jahren: »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Mit ein Grund für diese Zirkularitäten ist, dass notwendige Fähigkeiten zwar immer wieder benannt, aber selten präzisiert werden. Offenbar betrachtet man den naheliegenden Hintergrund aus Sprachwissen, Terminologie und Fachwissen als so natürlich, dass eine Präzisierung nicht notwendig erscheint. Dennoch beherrscht uns bei der praktischen Arbeit ständig das Gefühl, dass die tatsächlichen Anforderungen wesentlich komplizierter sind.

Dieses Gefühl werden wir nun auf drei Seiten näher beschreiben. Zunächst wollen wir versuchen, die scheinbar so natürlichen Elemente der Kernkompetenz von Übersetzern zu präzisieren. Die zwei Folgeseiten sind dann den hintergründigeren Elementen dieser Kernkompetenz gewidmet. In beiden Fällen greifen wir Aspekte heraus, die trotz ihrer großen Bedeutung für das Übersetzen von Außenstehenden vielleicht nicht immer korrekt eingeschätzt werden.

Sprachwissen (= kontrastives Sprachwissen)

Sprachwissen bildet naturgemäß den Kern unserer Tätigkeit. Aber schon Diskussionen auf dieser Ebene können kläglich scheitern. Ein Grund hierfür sind Klischeevorstellungen einer Vollkommenheit der Sprachbeherrschung. Die Selbstverständlichkeit, mit der Perfektion häufig vorausgesetzt wird, kann selbst noch den kompetentesten Sprachexperten in die Defensive drängen. In Wirklichkeit lässt starkes Selbstbewusstsein in dieser Hinsicht eher auf Naivität schließen. Gern übersehen werden auch gewisse fundamentale Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache.

Der Kernpunkt ist aber, dass die sprachliche Spezialkompetenz von guten Übersetzern kontrastiven Charakter hat. Was man unter allgemeiner Sprachbeherrschung versteht, reicht nicht aus, um diese Spezialkompetenz abzudecken. Kontrastives Sprachwissen geht insofern darüber hinaus, als Ausdrucksmittel in zwei Sprachen nicht nur korrekt verstanden und angewendet werden müssen, sondern es muss auch ihre Gängigkeit und ihr Gewicht in beiden Sprachen richtig zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Erst mit diesem Wissen lassen sich nicht nur Fachwörter richtig erfassen und wiedergeben, sondern auch die Zwischentöne, die einen wesentlichen Bestandteil von Texten bilden. Wenn dieses kontrastive Verständnis fehlt, wird der Übersetzer immer wieder Einzelaussagen über- oder unterbewerten. Übersetzen in beide Sprachrichtungen fördert das kontrastive Verständnis. Aber auch gute Übersetzer, die nur in ihre Muttersprache übersetzen, besitzen dieses Wissen in einem hohen Maß.

Kontrastives Sprachwissen ist auch deshalb so wichtig, weil direkte Wechselwirkungen mit den meisten anderen Elementen der Kernkompetenz bestehen, auf die wir noch eingehen werden. Etwa besteht ein enger Zusammenhang mit dem Interpretationsvermögen: Defizite im kontrastiven Sprachwissen sind ein enormes Hindernis für korrekte Interpretationen. Umgekehrt kann kontrastives Sprachwissen zur hochabstrakten Größe ohne praktischen Nutzen verkommen, wenn ein Übersetzer die Gedankenwelt von anderen Menschen aus nichtsprachlichen Gründen nur mangelhaft erfasst.

Terminologie (= trennscharfe Wortwahl)

Sehr ausgeprägt in der allgemeinen Wahrnehmung ist das Thema der Fachwörter. Viele Menschen glauben, dass eine Fachübersetzung dann gut ist, wenn sie im gleichen Ausmaß wie der Originaltext jargonisierte Fachausdrücke enthält. Zugespitzt könnte man sagen, dass mit Terminologie zu häufig die Vorstellung verbunden wird, der Fachübersetzer sei ein menschliches Fachwörterbuch. In Wahrheit können Wörterbücher immer nur eine Nachdenkhilfe sein.

Echte terminologische Kompetenz lässt sich nicht an der Häufigkeit von Fachausdrücken ablesen. Terminologie ist also nicht bloß ein Bindeglied zwischen Sprachwissen und Fachwissen, sondern umfasst alle Aspekte der Wortwahl überhaupt. Gute Übersetzer müssen bis zu einem gewissen Grad auch Entscheidungen über Jargonisierung und Entjargonisierung treffen können. Nicht immer muss alles exakt so klingen, wie es der Fachmann sagen würde. Dem steht die Erfahrung gegenüber, dass viele Fachtexte für den Zweck, den sie erfüllen sollen, zu stark jargonisiert sind. Sehr häufig signalisiert erst die Kunst dieser Gratwanderung echte terminologische Kompetenz.

Im Extremfall kann dieser Blickwinkel, der Qualität in erster Linie am Ausmaß der Jargonisierung misst, den eigentlichen Zweck der Tätigkeit pervertieren. Beispielsweise lassen sich schlecht verstandene Texte nicht mit Hilfe von Fachausdrücken verständlich machen. Nicht selten kommt es vor, dass Übersetzer unverstandene Aussagen mit schwer verständlichen Wörtern verschleiern wollen. Häufig ist auch der Fall, dass Autoren, unter Zeitdruck stehend, Nebenaussagen in schwere Fachausdrücke verpacken, während die Kernaussagen in leichten Zwischentönen liegen. Folglich wird ein guter Übersetzer nicht jede einzelne Wortwahl des Autors reproduzieren oder gar in unangebrachter Weise noch verstärken. Vielmehr wird er auf Missverhältnisse dieser Art mäßigend einwirken.

Fachwissen (= glaubhaft simuliertes Fachwissen)

Unter Fachübersetzern besteht seit jeher ein gewisses Spannungsfeld zwischen gelernten Sprachmittlern und fachlich ausgebildeten Quereinsteigern. Manche Meinungsverschiedenheiten, die hier entstehen mögen, haben damit zu tun, dass beide Gruppen nicht nur Vorzüge besitzen, sondern auch Defizite zu kompensieren haben. Und selbst wenn diese ursprünglichen Defizite nach jahrelanger Praxis eigentlich keine Rolle mehr spielen sollten, bleibt in beiden Gruppen stets das Risiko bestehen, dass sie von Außenstehenden oder Kunden wieder hineininterpretiert werden.

Wir machen kein Geheimnis daraus, dass wir die Perspektive des ausgebildeten Sprachmittlers vertreten. Die Sichtweise von ähnlich erfahrenen Quereinsteigern mit fachlichem Hintergrund können wir daher nicht diskutieren. Sehr wohl kennen wir aber Resultate. Zum Thema Spezialisierung ist zunächst zu sagen, dass einschlägiges Fachwissen natürlich den Einstieg in die Welt des Übersetzens stark erleichtert. Andererseits ergibt sich für ausgebildete Sprachmittler mit der Zeit zwangsläufig eine gewisse Spezialisierung. Niemand wird lange von »allgemeinen« Texten leben können, und jede langjährige Auseinandersetzung mit Fachtexten führt natürlich ebenfalls zu einer Art von Fachwissen.

Wir machen nicht den Fehler, dieses Nischenwissen mit praktischen Fachkenntnissen zu verwechseln. Vielmehr handelt es sich um eine bestimmte Perspektive, die aber wiederum der Quereinsteiger ebenfalls einnehmen muss. Denn auch der fachliche Horizont des Quereinsteigers wird nur einen kleinen Teil der Zusammenhänge, mit denen er im Übersetzeralltag konfrontiert ist, abdecken. Umgekehrt können sich auch ausgebildete Sprachmittler mit entsprechender Erfahrung gut in die Zusammenhänge von Fachtexten hineindenken.

Einmal mehr sind die Fähigkeiten des Einzelnen höher einzuschätzen als die Suggestionskraft der Tendenzen. Denn Sprachkompetenz schützt nicht vor Sinnwidrigkeiten und Fachwissen nicht vor Fehlinterpretationen. Hinzu kommt, dass gerade wissenschaftliche Gedankengänge oft sehr individuell formuliert werden. Fachwissen kann zur korrekten Aufnahme dieser Gedanken hilfreich sein, genauso häufig ist es aber völlig nutzlos, weil die beschriebenen Zusammenhänge weit abseits des Kernwissens liegen.

Ein gutes Beispiel lieferte vor einigen Jahren ein Professor A an einer Universitätsklinik, der in einem Fachjournal eine sehr spezielle Technik publizierten wollte. Nach anfänglicher Skepsis, ob wir dieser Technik würden folgen konnten, zeigte er sich nach Lieferung der Übersetzung positiv überrascht und meinte, wenn er den Ausgangstext Professor B im Nebenzimmer vorgelegt hätte, hätte dieser die Technik sehr wahrscheinlich nicht verstanden.
Moral der Geschichte: Der Quereinsteiger muss genauso wie der gelernte Sprachmittler den Hintergrund jedes einzelnen Autors samt dessen fachlichen und individuellen Eigenheiten simulieren. Im Rahmen dieser Simulation stehen dann gewisse Vorteile im fachlichen Basiswissen gegen ein höheres Maß an Basiswissen im praktischen Umgang mit Texten, wobei wiederum das kontrastive Sprachwissen mit seinen Wechselbeziehungen zu anderen Elementen der übersetzerischen Kernkompetenz eine besondere Rolle spielt.

Vereinfachend könnte man auch sagen, dass unsere Aufgabe der Simulation von Autoren eine schauspielerische Komponente im besten Sinn hat. Denn auch gute Schauspieler können einen Nobelpreisträger glaubhaft darstellen, ohne notwendigerweise selbst nobelpreisverdächtig zu sein. Umgekehrt sind nicht zwangsläufig andere Nobelpreisträger die erste Wahl für solche Rollen.

(Text aus 2009)

© 2019 Wilfried Preinfalk