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Nähkästchen:

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Einleitung                                   Übersicht

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2  Mehr Text und höherer Preis bei gleichem Inhalt?

Ausdehnung und Schrumpfung

Alle Probleme, die auf der letzten Seite angesprochen wurden, mögen Außenstehenden verwirrend erscheinen. Sie sind jedoch greifbar und lassen sich noch eindeutig quantifizieren. Somit ist eine verständliche Standardlösung, die nicht erneut eine Insellösung für eine bestimmte Sprachenkombination darstellt, immerhin möglich.

Allerdings ist eine einheitliche Vorgehensweise zur Preisberechnung von Übersetzungen auch deshalb schwierig, weil die Länge der Texte je nach Sprachenkombination und Sprachrichtung zunehmen oder abnehmen kann. Weiteren Einfluss auf diese Ausdehnung oder Schrumpfung nehmen, wie bereits angesprochen, die Art des Textes und die individuelle Arbeitsweise des Übersetzers.

Dieses Phänomen ist sehr viel weniger greifbar als andere Parameter, die in die Preisberechnung von Übersetzungen einfließen. Texte, die vom Englischen ins Deutsche übersetzt werden, können um 5 bis 15 Prozent im Volumen anschwellen. Englische Texte, die aus dem Deutschen übersetzt werden, fallen entsprechend kürzer aus. Zwischen anderen Sprachen greifen andere Faktoren.

Die Fragen rund um dieses Thema sind ebenso faszinierend wie unlösbar. Weitgehend außer Zweifel steht nur die Existenz dieser Abweichungen. Wir alle kennen den Effekt der Ausdehnung im Zusammenhang mit Filmsynchronisationen. Zumal die deutschen Synchronsprecher in älteren Hollywood-Filmen verfielen oft in ein rasendes Tempo, um mit den Schauspielern mithalten zu können.

Aber lässt sich daraus der Schluss ableiten, dass Sprecher des Deutschen generell 15 Prozent mehr Zeit zur Erläuterung derselben Inhalte benötigen als Sprecher des Englischen? Immerhin würde dies bedeuten, dass wir gegenüber dem englischsprachigen Raum deutliche Kommunikationsdefizite hätten. Entsprechend in Szene gesetzt, hätte diese These das Potenzial zu einem Reizthema, das den Widerspruchsgeist vieler Sprachwissenschaftler wecken könnte.

Optische Hyperausdehnung

Hinzu kommt ein weiterer Effekt: Deutsche Übersetzungen aus dem Englischen werden nicht nur objektiv länger, sondern der Eindruck des Anschwellens verstärkt sich durch optische Phänomene noch zusätzlich. Betrachtet man nur das sichtbare Resultat einer deutschen Übersetzung (Bildschirm oder Ausdruck), kann der Eindruck entstehen, dass der Textumfang nicht um 5 bis 15, sondern gleich um 25 bis 40 Prozent anwächst.

Der Grund hierfür kann einerseits darin liegen, dass der Text mit abgeschalteter oder grober Silbentrennung geschrieben wurde. Dieser erste Teileffekt ist leicht zu verstehen: Deutsche Wörter sind im Schnitt deutlich länger als englische, sodass im Schnitt auch die Zeilenumbrüche früher einsetzen. Weniger offensichtlich ist der zweite Teileffekt, hervorgerufen durch die mittlerweile große Verbreitung von proportionalen Schriftarten. Verschiedene Zeichen nehmen bei diesen Schriften unterschiedlich viel Raum ein.

Nun spielen zwei Faktoren zusammen: Erstens sind die Leerzeichen in proportionalen Schriftarten schlanker als die Druckzeichen. Da deutsche Wörter im Schnitt deutlich länger sind als englische Wörter, umfassen deutsche Texte bei identischer Zeichenzahl weniger Leerzeichen, dafür aber mehr Druckzeichen. Das Schriftbild wird dadurch insgesamt breiter. Verstärkend kommt hinzu, dass im Gegensatz zum Englischen alle deutschen Hauptwörter groß geschrieben werden und die Großbuchstaben in proportionalen Schriftarten breiter sind als die Kleinbuchstaben.

In Summe könnten diese optischen Phänomene unterschwellig den Verdacht nähren, dass beim Übersetzen ins Deutsche besonders redundant gearbeitet wird. Fairerweise müsste sich diese Kritik aber auf die objektive Textlänge beschränken. Sie wäre also nur dann gerechtfertigt, wenn die tatsächliche Ausdehnung (etwa laut Zählung in der Dokumentstatistik) den akzeptablen Erfahrungsbereich von 5 bis 15 Prozent deutlich überschreitet. Der zusätzliche Effekt einer optischen Hyperausdehnung in deutschen Texten liegt nicht in der Verantwortung des Übersetzers.

Eigene Erfahrungen

Warum aber werden Texte gleichen Inhalts in verschiedenen Sprachen überhaupt länger oder kürzer? Im Deutschen könnte man noch über komplizierte Strukturen der Grammatik spekulieren. Gern werden zur Erklärung auch angebliche Mentalitätsunterschiede aus der Schublade gezogen. Allerdings führen solche Gedanken bei kritischer Betrachtung ins Nichts.

Nach rationalen Gesichtspunkten sollte man zunächst die Frage stellen, ob Ausdehnung und Schrumpfung nicht vielmehr durch die Tätigkeit des Übersetzens selbst entstehen könnten. Immerhin müssen wir bedenken, dass die meisten Übersetzer nicht nur Inhalte, sondern auch vorgegebene Satzkonstruktionen in ihre Produkte mit einbeziehen. Der Grund für die Ausdehnung oder Schrumpfung könnte also auch darin liegen, dass englische Satzkonstruktionen länger werden, wenn man sie ins Deutsche überträgt. Umgekehrt würde gelten, dass deutsche Satzkonstruktionen kürzer werden, wenn man sie ins Englische überträgt.

Beide Effekte wären demnach auf Strukturen zurückzuführen, die sich beim Übersetzen in die jeweilige Zielsprache besonders anbieten. Dies würde nicht automatisch bedeuten, dass die Texte auch dann verschieden lang ausfallen müssen, wenn man die gleichen Inhalte ohne Anlehnung an einen Originaltext in der jeweiligen Sprache formuliert. Allerdings können wir das Volumen von identischen Inhalten in zwei Sprachen nur auf dem Weg der Übersetzung direkt miteinander vergleichen. Wenn aber gleichzeitig die Tätigkeit der Übersetzung verzerrend auf das Volumen wirkt, ist ein objektiver Vergleich nicht mehr möglich. Wir hätten es also quasi mit einer »Unschärferelation« zu tun.

Eine definitive Antwort können wir somit nicht anbieten. Unsere Erfahrung zeigt sehr wohl, dass viele Übersetzungen ins Deutsche kürzer werden, wenn man ohne Berücksichtigung der vorgegebenen Satzkonstruktionen nur die Inhalte abstrahiert. Anders ausgedrückt kann man deutsche Texte auch so formulieren, dass sie nicht länger werden als die englischen Originaltexte. Allerdings werden bei weitgehender Abstraktion des Inhalts auch die Redundanzen im Originaltext beseitigt. Mit anderen Worten: Vermutlich könnte man auch die Originalformulierungen weiter verkürzen.

Unsere Gedankengänge zu diesem Thema sind eng verflochten mit den Überlegungen zur Dichte der Textgestaltung in einem anderen Bereich dieser Internetseiten (siehe hier). Wir besprechen dort zwei Prinzipien, die zur Herstellung von gut verständlichen und lesbaren Texten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen sollten: das Prinzip der minimalen Ausführlichkeit und das Prinzip der idiomatischen Auflockerung. Beispielsweise wäre unseres Erachtens gut denkbar, dass man beim Überführen von Satzkonstruktionen ins Deutsche eher das Prinzip der minimalen Ausführlichkeit verletzt (Volumenzuwachs), bei Übersetzungen ins Englische hingegen eher das Prinzip der idiomatischen Auflockerung (Volumenabnahme).

Aufgrund der genannten »Unschärfe« können wir die Frage der Ausdehnung und Schrumpfung nicht wirklich beantworten. Die hier besprochene These, dass die Ursachen für Ausdehnung und Schrumpfung weniger in den Sprachen selbst als in der Tätigkeit des Übersetzens liegen könnten, halten wir für wahrscheinlich.

© 2019 Wilfried Preinfalk